Die Gans hat Pech. Dabei standen die Chancen gut, diesmal davonzukommen. Denn Heilig Abend ist eine Arbeitsnacht. Tilo Schneider-Bernschein verzichtet dennoch nicht aufs Festmahl. Seine Frau wird einfach die Gänsekeulen in die Apotheke bringen. Die erwachsenen Kinder kommen auch dazu. 2019 feiert die Familie in der Offizin. Denn Tilo Schneider-Bernschein hat an Heilig Abend Notdienst. Vom Morgen des 24. Dezembers bis zum nächsten Morgen um die gleiche Zeit wird er in seiner Apotheke sein. „Das wird eine stille Nacht“, glaubt er. „An Heiligabend gehen die Menschen in die Kirche und feiern“, fügt er hinzu. Fiebrige Kinder würden vor lauter Freude über die Geschenke kaum merken, wie krank sie sich eigentlich fühlen. Hochbetrieb herrsche in den Apotheken meist am zweiten Weihnachtsfeiertag, wenn sich die Erwachsenen am Festtagsessen den Magen verstimmt haben, erklärt Schneider-Bernschein. Seit 35 Jahren führt er die Apotheke am Burloh in Münster-Kinderhaus und hat – grob geschätzt – etwa 500 Notdienste in dieser Zeit geleistet. Sonntage, Weihnachtsfeiertage, Ostern. An Silvester hat er einmal mit der Familie in der Apotheke ein Raclette-Essen veranstaltet. Zur Petersilienhochzeit kam seine Frau mit den Nachbarn vorbei. „Ein bisschen Spaß und Gewissenhaftigkeit schließen sich nicht aus“, sagt Tilo Schneider-Bernschein lachend. Wenn kein Feiertag ist, er also keinen Besuch von Familie und Freunden bekommt, dann erledigt er im Notdienst „Bürokram“, wie er sagt. Ein hellgrüner Klappsessel steht in seinem Büro. Darauf verbringt er seine Nächte, nickt manchmal zwischendurch ein bisschen ein, bevor er wieder wachgeklingelt wird. 20 bis 30 Kunden kommen in einer durchschnittlichen Nacht, schätzt Schneider-Bernschein, 70 bis 80 sind es insgesamt an einem durchschnittlichen Sonn- oder Feiertagsdienst. Notfälle sind es nicht immer. Mancher Kunde glaubt gar, dem Apotheker einen Gefallen zu tun, wenn er ihn nachts wegen ein paar Hustenbonbons wachläutet. Mancher geht wieder, wenn er hört, dass er eine Notdienstgebühr zu bezahlen hat – um dann am nächsten Morgen mit demselben Rezept wiederzukommen, erzählt der Apotheker. Er lacht darüber; es macht ihm nicht viel aus. Denn es gibt eben auch die Patienten, „die richtig krank sind“, wie er erzählt, „die dringend Hilfe brauchen“. Eltern deren Kind stark fiebert. Allergiker, die kaum mehr Luft bekommen. Menschen, die vor Schmerzen kein Auge schließen können. Zudem gibt ihm die Arbeit tagsüber genug Energie – auch für die Nächte. „Es tut gut zu sehen, wie sich die Patienten freuen, wenn man ihnen hilft“, sagt er. Es tut ihm gut, wenn die alten Leute aus dem Stadtteil zu ihm kommen, um in der Apotheke ihre Sorgen loszuwerden. „Die haben niemanden mehr. Als Apotheker habe ich auch eine psychosoziale Verantwortung.“ Tilo Schneider-Bernschein ist ein ruhiger und gelassener Mensch mit einem freundlichen Blick. Er ist einer, der viel und gern lacht. Einer, dem man glaubt, dass sich viele Kranke bei ihm sofort ein bisschen besser fühlen. 66 Jahre ist er alt. Die Notdienste macht er nahezu alle selbst, statt sie seinem angestellten Kollegen aufzudrücken. Die Apotheke will er noch nicht abgeben: „Mir macht es einfach zu viel Spaß.“ Selbst im Notdienst.
© Apothekerverband Westfalen-Lippe e.V. | 2021
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